Vorgeschichte
In der Zeit meiner Aufenthalte in Bevensen während der Evakuierung und in den verschiedenen Schulferien lebte ich im Hause Lüneburger Straße 20 bei den Schwestern meiner Mutter. Sie hießen Alice Blechschmidt, geb. Wünecke sowie Erna und Grete Wünecke. Als Schwestern meiner Mutter Ilse Hepple, geb. Wünecke wurden sie von uns „Tanten“ genannt. Das große alte Bevenser Fachwerk- bzw. Steinhaus-Ensemble mit einer Hofeinfahrt durch ein großes doppelflügeliges Holztor lag an der Hauptdurchgangsstraße „Lüneburger Straße 20″ war ein Bauernhof im Fachwerkstil. Das Elternhaus war rund um den hinterseitigen Hof umrahmt von Schuppen, Lagergebäuden, Scheune und verschiedenen Anbauten. Zu einem späteren Zeitpunkt hat man das ursprünglich eingeschossige Vorder-Gebäude mit einem Fachwerkgiebel als Obergeschoß versehen und einen eingeschossigen steinernen Ladenanbau mit Schaufenster für einen Laden auf der linken Seite des Hauses errichtet.
Das Haus (ehemals Bürgerstelle 58) ist im Jahre 1796 als Neubau errichtet worden. Die Nummer ergibt sich aus der Zeit, als es in dem kleinen Ort noch keine Straßenbezeichnungen gab. Noch heute existiert ein Feuerlöscheimer aus mit Pech verschmiertem Leder mit der aufgemalten Nr. 58. Später wurden Straßennamen eingeführt und das Haus lag nun zuerst an der Lüneburger Straße 4, dann an der Lüneburger Straße 20, wie heute noch. Zwischenzeitlich war die Straße als Hauptstraße von den Nazis natürlich in Adolf-Hitler-Straße umbenannt worden.
Familienangaben
Erbauer und erster Bewohner des Hauses war der Schuster Amtsmeister Johann Heinrich Cordes, danach bewohnten sein Sohn und später die Familien Griepe und Meyer das Haus, bis mein Großvater, der Schlachtermeister Heinrich Friedrich Wilhelm Wünecke (4.12.1854 – 8.4.1920) das Haus im Jahre 1882 kaufte, um darin eine Schlachterei zu betreiben. Am 23.10.1883 heiratete er Minna Wilhelmine Elise Lühring aus Stöcken (28.8.1859 -20.8.1931) mit der er fünf Kinder bekam: Fritz Wilhelm Heinrich Ernst, geb. 9.5.1884, (verheiratet mit Elsa geb. Heinemeyer, Sohn Horst, gefallen vor Moskau, Tochter Uta Wünecke, verh. Trogner), Alice Marie Elise Johanne, geb. 10.1.1886, (verheiratet am 7.10.1913 mit Ludwig Eduard August Richard Blechschmidt, Volksschullehrer in Bevensen und Burgdorf i. Hann., später geschieden, Sohn Richard Fritz Ferdinand Ludwig, geb. 28.1.1915, gefallen in der Kesselschlacht östl. Kiew am 26.9.1941), Erna Wilhelmine Sophie, geb. 22.8.1889, Margarete (Grete genannt) Auguste Marie, geb. 28.7.1892, Ilse Henny Magdalene geb. 31.5.1899 (verheiratetet am 5.9.1934 mit Max Hepple, Söhne Wolfgang, *21.4.1936 und Volker Hepple, *8.8.1937)
Um 1889: Fritz, Erna und Alice Wünecke hinter der Staustufe der Medinger Mühle
Auch war Großvater Friedrich Wilhelm, kurz Fritz genannt, mehrfach Schützenkönig in Bevensen in den Jahren 1855, 1866 und 1874 (sh. auch die Schützenscheibe mit diesen Jahreszahlen an der Ostseite des heutigen Hauses in der Lüneburger Straße 20). Schon 1895 musste er den Beruf des Schlachters aus Gesundheitsgründen aufgeben. Er wurde Kaufmann und so wurde danach im Haus ein Laden mit neuen Wandschränken und einer Schubladentheke eingerichtet und als Kolonialwarenladen Fritz Wünecke neu eröffnet. Die alten Hakenleisten mit den Fleischhaken und der hölzerne Hack- und Zerlegungsblock im Lagerraum blieben aber bis zuletzt erhalten wie auch die alten Rohrleitungen für das Leuchtgas, mit dem man die Räume erhellte. Wie meine Mutter Ilse Hepple geb. Wünecke erzählte, wünschte sich ihr Vater, dass alle 3 Töchter im Haus bleiben sollten, um im Laden zu helfen und den Vater zu umsorgen.
Vor dem Laden um 1896
Überlieferungen und Erinnerungen
Meine Mutter Ilse hat sich aber nicht daran gehalten und eine Ausbildung als Apotheken-Helferin außerhalb von Bevensen begonnen. Das große und breite Haus betrat man über zwei Eingangsstufen aus dem rötlichen Stein der eiszeitlichen Findlinge wie dem großen Teufelsstein im langen Grund in der Gemarkung um Römstedt und Secklendorf. Die breite zweiflügelige Haustür passte gut zu dem breiten Haus.
Sie war grün gestrichen und als Eingangstür mit einem Messing-Handgriff und einem Schlossschild, ebenfalls aus Messing, verziert. In das buchgrosse Schloss passte ein ebenso großer Haustürschlüssel von etwa 12 cm Länge (heute noch beim Unterzeichner erhalten). Für den Kirchgang gab es zudem noch einen gleichschließenden Klappschlüssel, der auch in die Handtasche passte. Das Hauptgebäude selbst beherbergte im Erdgeschoss einen Wohnraum mit zwei Fenstern zur Straße hin. Auf der Fensterbank standen immer Blumen, im Herbst meist eine blühende Clivia. Im Wohnzimmer gab es einen grün gekachelten Kohleofen und ein mondbeschienenes Ölgemälde in einem üppigen großen Goldrahmen, signiert vom Maler L. Schmitz. Das Ölgemälde war das Hochzeitgeschenk meiner Großeltern, es ist noch heute in unserem Besitz wie auch eine holzverzierte Sitzgamitur, die wir noch immer, natürlich aufgearbeitet und neu bezogen, benutzen. Der Wohnraum war gegenüber dem mit großflächigen grauen Steinen belegten Flur um eine Stufe erhöht, da sich darunter noch ein meist unbenutzter Bruchsteinkeller befand, der aber nur über eine hölzerne Bodenplatte vom Flur aus begehbar war. Der geräumige Flur führte auch zur schmalen Küche, in der meist von Erna und Grete gekocht und gebacken wurde. Von ebenfalls diesem Flur gelangte man zu einem hofseitigen „Sonntagsraum“ mit Sofa und Schrankumbau, einer tiefschwarzen Kredenz nach damaligem Geschmack und einem kleinen Nebenraum mit einem Bücherschrank, der dem im Jahre 1941 in Rußland gefallenen Sohn Richard Blechschmidt gewidmet war. In den schwarzen Schränken waren Trinkgläser und die bunten, wertvollen Kristall-geschliffenen Wein- und Likörgläser sowie das Porzellan untergebracht.
Aus dem großen Eingangsflur mit der grünen doppelseitigen Haustür und ihren Messingbeschlägen ging man außerdem durch einen weiteren schmaleren Flur zum Hof sowie zu einem alten hofseitigen Wohnraum mit einem hohen braunen Kachelofen (seit 1995 im Hause Frings-Hepple in Rurberg, Wieskuhl 3 wiederaufgebaut). Dieser Raum mit dem grauen Steinboden wurde aber nur noch als Durchgang zum Laden und als Lager für Verkaufswaren benutzt. Schließlich erreichte man aus dem Vorflur noch einen straßenseitigen Zwischen- und Durchgangsraum mit drei Fenstern, der weiter zum Laden führte. Dieser Raum wurde auch zu Ausstellungszwecken für das Geschäft insbesondere für Saisonware (Ostereier, Weihnachtsspielzeug, etc.) benutzt. Er verfugte über einen Kanonenofen, der im Winter mühsam beheizt werden musste. Das für den Verkauf vorgesehene Spielzeug, oft aus Blech, stach uns natürlich in die Augen, aber die Tanten schlossen den Raum dann häufiger ab.
Dann endlich konnte man den sog. Kolonialwarenladen mit seinen tausend Schubladen und seinem Boden aus breiten Eichenbrettern betreten. Die großen und kleinen Schubladen mit den schönen Emailleschildern und der schwarzen Schnörkelschrift beinhalteten in loser Form Mehl und Zucker, Haferflocken oder Rosinen aus der Türkei, auch die schwarzen Korinthen aus Griechenland. Alles wurde in Tüten gefüllt und auf einer großen Kaufmannswaage aus Messing abgewogen. Auch gab es lose, meist rote Marmelade aus Blecheimern und Butterpäckchen, von denen ganz geringe Mengen nach Bedarf abgeschnitten wurden. Vorne auf der Ladentheke standen die hohen Glasgefäße mit den eingeschliffenen Deckeln, voll mit den bunten süßen Fruchtdrops, die einzeln verkauft wurden und allerlei Angebote.
Manchmal durfte ich später im Laden beim Verkauf helfen und sollte z.B. 1/4 Pfund Mehl in einer Spitztüte abwiegen. Wie die Tüte fachgerecht zu verschließen war, hatte mir eine der Tanten beigebracht. Auch sollte ich bei Bedarf ab und zu etwas Butter aus der nahegelegenen Molkerei in der Straße „Im krummen Arm“ holen. So schickte man mich, 1 Pfund Butter zu holen, das dann in Stückchen zu 1/4 oder sogar 1/8 verkauft wurde. Natürlich gab es in dem Laden auch „Kolonialwaren“ wie eben Rosinen oder später auch Apfelsinen und Zitronen. Leider wurden die ausgelegten Apfelsinen des Öfteren geklaut, weil die Diebe wussten, dass die Tanten nicht immer im Laden bereit standen, sondern erst aus ihrem Wohnzimmer in den Ladenraum eilen mussten, wenn die Ladentür-Klingel ertönte. Selbstverständlich waren auch Alkoholika wie Branntwein und sogar Danziger Goldwasser mit den hauchdünnen flittrigen Blättchen aus echtem Gold vorrätig und im kleinen Schaufenster ausgestellt. Übriges konnte man zum Vergolden auch Blattgold in 10er-Päckchen kaufen, also gewissermaßen alles, was einen richtigen „Tante Emma-Laden“ ausmachte. Auch Schultüten zur Einschulung soll es im Laden gegeben haben, die aber in schlechten Zeiten gewissermaßen nur unter der Ladentheke verkauft wurden. Zur Dekoration stand im vorderen Ladenbereich eine große rosa blühende Azalee, die bei den Kunden immer großen Anklang fand.
Als Kolonialwaren bezeichnete man früher, insbesondere zur Kolonialzeit bis etwa 1918, überseeische Lebens- und Genussmittel wie Zucker, Kaffee, Tabak, Reis, Kakao, Gewürze und Tee. All diese Produkte wurden in dem Bevenser Laden verkauft. Bis in die 1970er Jahre hatte sich der Begriff Kolonialwarenladen noch gehalten. So hatte sich auch das am Ladeneingang angebrachte Hinweisschild „Kolonialwaren“ noch lange erhalten. Sie boten zwar oft keine oder nur eine kleine Auswahl an Kolonialwaren mehr an, jedoch alle Grundnahrungsmittel, unabhängig vom Herkunftsland. Daneben auch Seife, Waschmittel, Petroleum und anderen Haushaltsbedarf. Auch Ansichtskarten mit Bevenser Motiven waren im Angebot, auch aus einem eigenen Verlag. Noch heute sind einige dieser Originalkarten beim Unterzeichner vorhanden. Demgemäß entsprach der frühere Kolonialwarenladen dem Tante Emma-Laden aus der Nachkriegszeit.
Eines früheren Tages erschien ein Bauer im Laden und wies eine große alte Silbermünze vor, die er im Feld gefunden habe. Der Großvater Fritz kaufte ihm die Münze für fünf Reichsmark ab. Es handelt sich um eine von Hand geschnittene und geprägte Münze aus Braunschweig- Wolfenbuettel. Der Thaler aus dem Jahre 1633 hat 4 cm Durchmesser und auf der Vorderseite das Bildnis einer Art Rübezahl mit einem entwurzelten Baum, umgeben von der Inschrift „DEO ET PATRIA“ und auf der Rückseite ein Wappen mit der Randumschrift „DUX.BRVNSEL:FREDERIC“ Die Münze ist noch heute im Besitz des Verfasser.
An den Laden schloss sich ein dunkler, geheimnisvoller schwarzer Raum an, die sog. Butze, deren Nutzung oder besser Nichtnutzung immer rätselhaft blieb. Wahrscheinlich war es ein Raum aus alter Schlachter-Zeit, wo geräuchert werden konnte, zumal auch hier an vielen Stellen wie im Laden selbst alte Fleischhaken hingen, als Großvater Fritz Wünecke noch eine Schlachterei betrieb. Die 1882 bei der Einrichtung eines Schlachterladens erforderlichen Fleischhaken an den Wänden überlebten alle Zeiten und waren noch bis zum Abriss des Hauses 1966 zu sehen.
Über eine zweistufige Treppe gelangte man in die beiden hintereinander liegenden Lagerräume mit vielen Regalen und Schränken, ein phantastischer Spiel- und Abenteuerplatz für uns Jungen. Im ersten Lager stand noch der große Hauklotz aus Fleischers-Zeiten, den wir oft für unsere Basteleien als feste Unterlage benutzten. In den umliegenden Regalen fand ich auch die bald 18 cm langen vierkantigen Zimmermannsnägel, die wir später für die spätere Baumbesteigung in Schröders Garten nutzten. In der Ecke neben der Eingangstreppe befand sich ein großer Räucherkamin mit Arbeitstisch und einer Abzugshaube. Daneben auch ein alter Bücherschrank mit Glastüren, in dem neben verschiedenster Literatur und Nazi-Büchern (heute in der NS-Sammlung in der Ordensburg Vogelsang in der Eifel) eine über 20 bändige Ausgabe von Meyers Konversations-Lexikon von 1898 mit goldgeprägten Jugendstil-Rücken stand (noch heute bei Hepple erhalten).
Das zweite Lager war seit Kriegszeiten voll von aufbewahrten Pappkartons, leeren Marmeladeneimern und Mengen von altem Plunder, also alles was noch irgendwie brauchbar erschien. In zwei ausrangierten Kleiderschränken fanden wir zudem allerlei abgesetzte Kleider, Jacken und Hüte, die uns oft zu Verkleidungen aller Art dienten. Aus diesem Lager führte eine völlig verstaubte Treppe zu einer ersten Etage mit ebenfalls vielen aber leeren Regalen. Von dort gelangte man noch zu einem Art Trockenraum und dem obersten Boden des Haupthauses, wo sich ein früherer Taubenschlag befand.
Im hinteren Teil des Ladens gab es im Erdgeschoß wieder einen Übergang zum Hof durch einen grünen Holzumbau mit Fenstern, die sog. Laube. Hier standen zwei weiße Korbsessel und meist eine große eingetopfte Zimmerpflanze, meiner Erinnerung nach eine Agapanthus, die im Sommer auf den Hof gestellt wurde und reichlich mit ihren langen blauen Dolden blühte. Die Pflanze wurde immer nur durch Regenwasser mit eingelegten Eierschalen gewässert. Durch die Laube konnte man auch über eine Blausteintreppe zu einem großen Gewölbekeller gelangen, in dem Wein gelagert war. Dieser Keller existiert noch heute, ist mit einem Ladenanbau des Neubaus überbaut und dient als Lagerkeller für das obere Geschäft der heutigen Fa. Arko. Schließlich sei noch die obere Etage im Haupthaus beschrieben. Über eine Holztreppe mit einem schönen Holzgitter gelangte man in die 1. Etage. Dort fanden sich, von einem Umgang erreichbar, insgesamt 4 Schlafzimmer und eine Mädchenkammer. Das straßenseitige Schlafzimmer wies einen hohen hellgrünen Kachelofen auf und zwei Betten sowie einen Vertiko als Wäscheschrank. Im Nebenzimmer standen neben einem Bett zwei hohe und breite Kleiderschränke mit allerlei Zierleisten und Schnitzwerk (heute in Rurberg). Zwei Schlafzimmer waren zur Giebelseite nach Norden gerichtet, wo die Tanten selbst schliefen. Erwähnenswert noch die Mädchenkammer, die einer wohl früher beschäftigten Haushaltshilfe zugewiesen war. Die Kammer mit Bett und Schrank war aber ziemlich heruntergekommen und nur noch voller Plunder. Auch von hier konnte man übrigens durch einen Verschlag in den früheren Taubenschlag kommen.
In manchen Räumen gab es noch Rohrleitungen für die mit Gas betriebenen Lampen. Sie hatten jeweils einen darin befindlichen Glühstrumpf. Wir Kinder schliefen im ersten Stock in dem straßenseitigen unbeheizten Zimmer, in dem wie zum Hohn ein großer alter grüner Kachelofen stand. Der wurde aber nie beheizt und so war das Zimmer im Winter natürlich eisig kalt. Um überhaupt in den eiskalten Bettbezügen einschlafen zu können, bekamen wir ab und zu einen größeren Naturstein an die Füße gelegt, der zuvor in einem anderen Ofen heiß gemacht und mit einem Handtuch umwickelt war. Morgens waren die Fenster mit Eisblumen belegt und fast undurchsichtig geworden, was es wegen der heutigen Doppelfenster ja nicht mehr gibt. Trotzdem wollten wir manchmal noch nicht rechtzeitig aufstehen. Einmal schimpfte die Tante Alice: „Wartet nur bis ihr in die Hitlerjugend kommt, dann wird das anders“.
Im Hof, der mit kleinen Katzenköpfen (aus der Natur gesammelte Kieselsteine) gepflastert war, standen zwei große alte Bimenbäume, die aber immer noch Früchte trugen. Der Hof konnte wegen der Katzenköpfe mit ihren unterschiedlichen Höhen nur mit einem früher oft noch verwendeten Reisigbesen gefegt werden. Die rückwärtige Scheune, ebenfalls ein Fachwerkbau mit einem großen Tor und einem Lehmboden als Tenne, diente zu meiner Jugendzeit nur noch als Spielplatz, wo ein Leiterwagen, ein altes Motorrad und allerlei Gerätschaften lagerten und sich auch meist eine kleine Hühnerschar aufhielt. Neben der Scheune gab es eine mit rotem Pfannendach überdeckte Hofecke, den sog. Schauer, in dem noch einige landwirtschaftliche Geräte wie z.B. eine Egge standen. Das Nachbargrundstück der Familie Niebuhr, seines Zeichens Schuhmacher, war durch einen Holzzaun, die Planke, von unserem Hof abgetrennt. Dort entlang standen einige violett blühende Fliederbüsche und die Reste eines Misthaufens, später für Grünabfall genutzt.
Links neben der Scheune war eine Waschküche mit der entsprechenden Wasch- und Kocheinrichtung, daneben das Plumpsklo über einer mit morschen Holzbohlen abgedeckten Sickergrube. Der Holzsitz dieser Toilette hatte über dem Loch einen Holzdeckel mit Handgriff, der immer wieder über das Loch gelegt werden sollte. Als Papier standen meist handlich klein gerissene Stücke aus alten Zeitungen zur Verfügung, direkt nach dem Kriegsende auch Hitlers „Mein Kampf“. Weiterhin gab es neben dem Klo noch zwei kleine Ställe, und zwar einen noch mit Stroh gefüllten ehem. Schweinestall und einen niedrigen Schaf- oder Tierstall, der als Kohlenlager diente.
Zu einem früheren Zeitpunkt (1939) gab es auch in Bevensen die Verdunkelungsvorschrift der Nazis. Alle Fenster, hinter denen Licht brennen sollte, mussten mit einem schwarzen, lichtundurchlässigen Rollo oder Vorhang versehen sein. Kein Lichtschein durfte zu sehen sein. Eines Abends, ich nehme an es war im Sommer oder Ende 1944, brannte in der Dunkelheit doch noch Licht in unserem Flur, ohne daß ein Rollo vorgezogen war. Plötzlich flog mit lautem Knall ein Schlüsselbund in das Fenster und ein Blockwart o.a. schrie laut „Licht aus“. Ich weiß nicht mehr, ob das Fenster auch gesprungen war. Die Tanten hatten sich aber furchtbar erschrocken und machten schnell das Licht aus. Mein Vater, der nach der Zerstörung Dürens am 16.11.44 mit seiner Frau von Düren nach Bevensen in die Evakuierung geflüchtet war, schickte mich gern mit einem der hübschen Bierhumpen mit verziertem Zinndeckel (Krüge heute noch vorhanden) zum Reichshof, um den Krug mit frisch gezapftem Bier zu füllen. Die Aufschriften auf den Krügen lauteten „Wohl bekomms“ oder „Hopfen und Malz, Gott erhalts“. Schnell musste ich nach Hause eilen, denn der Vater legte Wert auf eine schöne Schaumkrone.
Oft haben wir auch mit einem grün-weiß lackierten Blasrohr, auch Pusterohr genannt, Erbsen verschossen oder sogar, wenn vorhanden, Munition mit einer Stahlspitze und einem Federbusch am Ende, fälschlicherweise auch Flobert genannt, auf eine Zielscheibe am Scheunentor gezielt, um das Geschoss mit einem kräftigen Luftstoss aus dem Rohr zu jagen. Bei einem guten Schuss blieb die Nadel dann im Holz stecken und wir konnten an der Zielscheibe die getroffene Nummer ablesen.
Letzte Kriegsmonate
Wegen der heranrückenden Westfront und der Bombengefahr hatten die Eltern meinen Bruder und mich schon frühzeitig in den Sommerferien 1944 nach Bevensen aufs Land geschickt. Die Kinder-Verschickung geschah in weiser Voraussicht, denn nach mehreren Luftangriffen auf Düren wurde die Stadt als Heimatort meiner Eltern durch einen verheerenden Bombenangriff durch 500 englische Bomber am 16. November 1944 in der Innenstadt zu 98% zerstört. Die Eltern hatten gerade überlebt und flüchteten auf Umwegen ebenfalls nach Bevensen.
Im Herbst des Kriegsjahres 1944 wurde ich zusammen mit Jürgen Eggers und Jürgen Cahnbley in der Volksschule Bevensen aufgenommen. An andere Kinder kann ich mich nicht erinnern. Unser Lehrer hieß Alpers. Später gab es dann eine lange schulfreie Zeit. Viele Lehrer waren in Kriegsgefangenschaft oder durften bis zum Abschluss der Entnazifizierung nicht unterrichten. Auch gab es durch die vielen Flüchtlingskinder hohe Schülerzahlen in den Klassen, bis zu 45 Kinder. Der Sinnspruch über dem Eingang der damaligen Volks- oder Mittelschule in der Lindenstraße lautet bis heute auch für die gegenwärtige Gesamtschule: „Nutze deine jungen Tage, lerne zeitig klüger sein“.
Meine Mutter hatte mir wie auch meinem Bruder dazumal die Haare lang wachsen lassen, so dass wir einen Bubikopf bzw. eine Art „Prinz Eisenherz-Frisur“ hatten. Das führte natürlich auch zu Hänseleien und so wurde ich eines Tages aus dem Jungen-Klo mit der Bemerkung gejagt, ich solle doch zum Mädchenklo gehen.
Einmal kam meine mir inzwischen etwas verfremdete Mutter am 7. August aus Düren zu Besuch. Ich sagte zu der mir vertrauteren Tante Erna: „Kannst du der Mama mal sagen, dass ich morgen Geburtstag habe?“. Natürlich war die Mutter genau deswegen nach Bevensen gekommen. Zu Anfang meiner Zeit gab es auch einen mittelgroßen weißen Foxterrier namens „Räuber“, den wir ab und zu ausfuhren sollten. Das im Haus sehr liebe Tier verwandelte sich bei Spaziergängen draußen immer in ein laut kläffendes und bissiges Wesen, das andere Hunde nicht leiden konnte. Deswegen musste das Tier immer an der Leine geführt werden.
Kurz bevor die Engländer einrückten, schlängelte sich die Nachricht durch Bevensen, dass im Haus des Roten Kreuzes eine Ladung mit hochwertigen holländischen Radiogeräten, also wohl Beutegut, zur Verteilung bereit stünde. So machten sich viele Einwohner auf die Socken, um ein Gerät zu ergattern. Ich kann mich nicht erinnern, ob wir auch etwas abbekommen haben. Wir besaßen nach wie vor nur den üblichen Volksempfänger im schwarzbraunen Bakelit-Gehäuse.
Als die Front näherrückte, zogen sich die Bewohner des Städtchens Bevensen in ihre Häuser zurück. Da ich neugierig war, trat ich noch einmal vor die Tür um irgendetwas Aufregendes zu erhaschen. Ich hatte Glück: Ein Luftkampf spielte sich hoch über mir ab. Ich sah viele Kondens-Streifen in Kurvenform von am Himmel kreisenden Fliegern und feuerrote Explosionsbälle, wahrscheinlich getroffene Flugzeuge. Dann wurde ich zu meinem Leidwesen wieder herein gerufen, weil es draußen zu gefahrlich sei. Doch noch einmal lauerte ich später hinter den Scheiben des Hauses und so sah ich einen schnell fahrenden deutschen Halbketten-SPW (Schützenpanzer auf Kettenfahrwerk) mit angehängter 7,5 cm Langrohr-Pak 40. Beide Fahrzeuge waren über und über mit großen grünen Zweigen getarnt. Sie kamen aus Richtung Kirche und brausten über die „Adolf-Hitler-Straße“ zur Bahnbrücke hin. Vermutlich flüchtete man vor den feindlichen Panzerspitzen, die ja nicht lange danach aus der gleichen Richtung einrückten. Kurze Zeit danach hielt ich mich in der Scheune auf. Plötzlich gab es einen großen Knall, die Scheune bebte und mir flog eine dicke Staubwolke um die Ohren. Was war geschehen? Es handelte sich um eine Granate der Artillerie oder ein Geschoss aus einer Panzerkanone der heranrückenden Engländer. Sie hatten offensichtlich wie üblich einen Wamschuss in den Ort gefeuert, um die Bevölkerung und damit wohl auch die deutschen Truppen zu warnen. Die Granate tötete vier Einwohner, die in der Kurzen Straße hinter unserer Scheune gestanden hatten, wie wir später erfuhren. Wir mussten nach diesem Knall sofort in den Keller flüchten, einen alten und muffigen Gewölbekeller unter den Lagerräumen im Hof. Hier hielt ich es nicht lange aus und als ich am Dienstag, 17.4.1945 die Kettengeräusche fahrender Panzer hörte, schlich ich zur Ladentür, um gegen 16.30 Uhr durch eine Ritze der mit Holzpaneelen verbarrikadierten Fenster der Ladentür zu lugen. Was ich sah, hat sich bis heute genau eingeprägt: Hinter einzelnen Panzern schritt in gebückter Haltung eine Schützenkette von behelmten englischen (oder schottischen) Soldaten mit angelegter Maschinenpistole, von der Kirche her kommend die Lüneburger Straße entlang Richtung Bahnbrücke. Aber nichts rührte sich, so dass der Ort kampflos besetzt werden konnte.
In einem späteren Artikel über die Besetzung von Uelzen hieß es, dass die 15. Schottische Infanteriedivision den Befehl erhalten hatte, am Freitag den 13. April 1945 auf Uelzen vorzurücken und daher wohl anschließend auch auf Bevensen.
Kriegsende in Bevensen
Schnell war auch am Ende des Hitlerreiches in unserem Haus eine neue Ordnung geschaffen: Die zweiläufige Schrotflinte wurde ebenso vergraben wie ein Luftgewehr, das Buch „Mein Kampf als Abreißkalender aus Papier auf die Toilette gehängt und aus den Raumbild-Betrachtungsbänden mit den Titeln „Die Soldaten des Führers im Felde“ und „Der Kampf im Westen“ waren die Fotos der Nazi-Größen in Stücke gerissen oder ganz entfernt Alle „Nazi-Devotionalien“ und Uniformstücke befinden sich heute in der früheren Ordensburg Vogelsang in der Eifel bei Euskirchen im Museum „Herrenmensch“.
Nach dem Einmarsch der englischen Truppen in Bevensen im April 1945 durfte ich natürlich nicht auf die Straße, weil dies den Tanten zu Recht zu gefährlich erschienen war. Daher konnte ich nur durch die geschlossenen Gardinen auf die Straße vor dem Haus spinsen. Dabei war es mir möglich, einen Soldaten, einen Farbigen mit Stahlhelm, zu beobachten. Er saß ganz entspannt in einem offenen englischen Schützenpanzer direkt vor unserem Wohnzimmerfenster. In seinem Ketten-Fahrzeug in der typischen englischen Kurzform hatte er es sich gemütlich gemacht und schälte sich eine große Apfelsine. Da hatte ich zum erstenmal eine solche orangefarbene Südfrucht gesehen! […] Natürlich wusste ich noch immer nicht, wie köstlich eine Apfelsine schmeckt. Kurz nach dem Einmarsch verteilten sich die Soldaten auf die einzelnen Häuser und so bekamen wir eine Einquartierung von vier englischen Soldaten, die in der Stube zwischen Flur und Laden im Erdgeschoss hausten. Von diesem Zeitpunkt an durften wir diesen Bereich nicht mehr betreten, obwohl unsere Neugier natürlich groß war. Nach einigen Tagen verließ uns die Besatzung wieder ohne etwas geplündert zu haben. Aber sie hinterließen einige interessante Reste: So z.B. 4 Scheiben eines schneeweißen Toastbrots (was ich noch nie gesehen hatte), einen würfelformigen silbernen Wecker (den ich noch heute habe) und eine gerippte Eier-Handgranate. Diese Wurfgranate lag plötzlich auf dem Spiegeltisch im Wohnzimmer, ob von den Engländern dort als Gruß hingelegt oder nachdem die Tanten im Bereich der Besatzung aufgeräumt hatten, weiß ich nicht. Wie ich später erfuhr, trug Tante Alice die Handgranate in der Kitteltasche zum Magistrat im Rathaus, um sie einem Beamten (vom Ordnungsamt?) mit den Worten auf den Schreibtisch zu legen: „Das haben die englischen Soldaten bei uns vergessen!“. Der arme Mann fuhr hoch und floh blitzschnell aus dem Zimmer.
An einen Weihnachtsbaum zu dieser Zeit kann ich mich nicht erinnern. Wenn es einen gab, war er sicherlich mit Lametta geschmückt, das aus Silberpapierstreifen geschnitten war, die bei Luftangriffen von feindlichen Fliegern abgeworfen wurden, um das deutsche Abwehr-Radar zu stören. Zuvor hatten wir zu Weihnachten die schon erwähnten rot-gelben Holzpanzer mit einzelnen Rädern geschenkt bekommen, die zusammen mit etwa acht 10 cm hohen Soldaten-Figuren aus Elastolin zu Gefechtsspielen auch nach dem Ende des Krieges benutzt wurden.
Nachkriegszeit
Um der Vielzahl der Flüchtlinge Herr zu werden, die mit großen Leiterwagen-Trecks aus dem Osten kamen, hat die Behörde durch dafür eingesetzte Personen jedes einzelne Haus aufgesucht und die Anzahl der Räume und die in den Wohnungen vorhandenen Personen festgestellt. Dies war dann die Grundlage für die Einweisung von Flüchtlingen. So wurden im Bevenser Haus der Tanten wieder drei Personen einquartiert, die einige Monate in der oberen Etage blieben, wo man seine Schlafkammern hatte räumen müssen. Leider hatten die Tanten dafür überhaupt kein Verständnis und behandelten die Flüchtlinge sehr schlecht. Im Hof befand sich eine Frischwasserpumpe als einzige Wasserquelle des Hauses. Hier mussten auch die Flüchtlinge ihr Wasser holen. Insbesondere Tante Alice verbot den armen Leuten, andere Räume des Hauses oder den Hof zu betreten, außer um Wasser von der Pumpe zu holen. „Verschwinden Sie wie ein Düsenjäger wieder vom Hof hörte ich sie eines Tages sagen (Woher wusste sie wohl, was ein Düsenjäger ist?)
In der unmittelbaren Nachkriegszeit ging mein Vater einmal mit mir im Wald spazieren, als wir von einem zurückgebliebenen Fremdarbeiter überfallen wurden. Er wollte meinem Vater die Zwiebeluhr rauben, die er immer an einer Kette in der Westentasche trug. Ich lief laut schreiend aus Angst davon. Ob sich mein Vater verteidigen konnte oder nicht, ist mir nicht mehr erinnerlich.
Einige Tage oder Wochen nach Kriegsende in Bevensen erkundeten wir die Umgebung. Dabei stießen wir an der sog. Kreuzchaussee am Ende des Rießel-Waldes auf ein zurückgelassenes und unzerstörtes 8,8 Flakgeschütz, das offensichtlich für den Bodenkampf auf die damalige Reichsstraße aus Richtung Uelzen (oder auch die Straße nach Seedorf /Natendorf) gerichtet war, um im Bodenkampf gegen aus Westen herannahende Feindpanzer eingesetzt zu werden.
Man konnte das Geschütz noch in alle Richtungen kurbeln: Das Rohr nach oben oder unten, das ganze Geschütz nach rechts oder links und auch rundherum. Das machte Spaß! Die Granatenhülsen störten uns nicht, sie waren sicherlich teilweise auch schon weggesammelt.
Auch in den vielen Wochen und Monaten der Evakuierung ergaben sich noch manch andere Spielmöglichkeiten. Wir spielten natürlich auch noch Krieg. Zwei kleine bunte Holzpanzer aus dem Laden von Wünecke, die statt Ketten nur Räder hatten, 8 bis 10 Elastolin-Soldaten in Wehrmachtsuniform und ein Blechgeschütz, mit dem man Erbsen verschießen konnte, dienten uns als Streitmacht. Alles wurde auf dem Teppich in Reih und Glied aufgebaut und auch z.B. gegen den dazu eingeladenen Nachbarjungen von der Bäckerei Uhde eingesetzt.
Auf dem Hof wurde manchmal mit einem alten weißen Pusterohr vom Kinderschützenfest auf eine Zielscheibe geschossen. Als Munition dienten Erbsen, harte Beeren oder ein sog. Fluster, ein mit flauschigen Kunsthaaren besetzte Kugelspitze. Scheinbar gab es zu dieser Zeit für die Kinder in der Schule auch eine Schulspeisung. Aus einer Küche in der Schule wurden die Gerichte in einen „Henkelmann“ gefüllt, den die Kinder von zuhause mitbringen mussten. Ich erinnere mich, einmal von einem größeren Jungen verfolgt worden zu sein, der mir den auf Kartoffelbrei aufgelegten Schinken oder sowas wie Wellfleisch abjagen wollte. Bei einer wilden Verfolgungs-Jagd über den Schulhof flog das gute Stück aus dem Soldaten-Kochgeschirr auf den Sandboden des Schulhofs, wo der Räuber es
wieder auflas und an sich nahm. Auch gibt es Erinnerungen an Kakaosuppe oder süße Mehlsuppe. Hunger hatte ich wohl selten verspürt weil es vermutlich im Kolonialwarenladen als einem Handelsgeschäft immer noch etwas zu essen gab.
Für den kindlichen Spielbetrieb mit den Freunden (hauptsachlich mit Bruder Wolfgang, Jens Ruhsert aus der Apotheke Schröder, Eberhard … mit seinen epileptischen Anfällen, u.a.) wurden später auch leere Kabelrollen eingesammelt. Allein der Besitz hatte gegenüber den anderen Kindern einen gewissen Wert, da man damit allerhand Spiele veranstalten konnte, so z.B. auf dem Hof hinter der Apotheke Schröder. Dort baute man mit den Kabelrollen, zwei Eisenstangen als Achsen und vielgelochten Leiterholmen aus Holz als Seitenelemente eine Art Eisenbahnwaggon.
Als Gleise wurden zwei U-förmige Gräben in den Hofsand gegraben und der Waggon durch diese Rinnen geschoben. Da es in der unmittelbaren Nachkriegszeit keine geordneten Verhältnisse gab, konnten im genannten Hof auch allerhand andere Spiele getrieben werden: Eine „Wohnhöhle“, sicher eineinhalb Meter tief, war in den Boden gegraben und mit Bretterdach und Erde bedeckt wie ein Bunker, Baumsitze und Höhlen-Buden hoch im Geäst „als Beobachtungsposten“ verteilt etc.
Interessant erschien uns auch ein Abstellraum in der Scheune von Schröder, in dem auf verschiedenen Regalen abgesetztes Spielzeug eingelagert war. Zu gern hätten wir uns da bedient, aber der Raum war immer abgeschlossen. Nur einmal ist es uns gelungen, unter Begleitung einen Blick hineinzuwerfen.
Auf einem Hof neben der Scheune stand auch eine aufgebockte graue Wanderer-Limousine ohne Räder und Reifen, die der Beschlagnahme durch die Wehrmacht entgangen war. Gern nahmen wir in dem unverschlossenen Fahrzeug Platz und drehten am Lenkrad, um „irgendwo hin zu fahren“.
Zwischendurch lief ich bei Hungergefühlen oft nach Hause und die freundlichen Tanten schmierten mir ein zusammengeklapptes Graubrot mit Weißwurst Als „Appetitanreger“ schnitt man vorne eine kleine Schräge mit den Worten ab: „Zum Zähne schärfen“. Zum Trinken gab es an heißen Sommertagen Johannisbeersaft, der aus eingemachtem Johannisbeeren, mit Wasser aufgefüllt, hergestellt wurde.
Ein andermal wurde zum Kampf gegen die Kinder der in der Nähe gelegenen Straße „Rosengarten“
geblasen. Offensichtlich gab es seit längerem eine Fehde zwischen den Kindern (und Bewohnern?) der Adolf-Hitler-Straße und dem Rosengarten. So rottete sich eines Tages eine Kinder- oder Jugendbande zusammen, um ihrem „Widerwillen“ gegen die dortigen Jung- Bewohner Nachdruck zu verleihen. Der Älteste unserer Bande war wohl schon 16 oder 18, ich selbst im Jahre 1945 ganze 8 Jahre.
Jeder der Jugendlichen sollte sich mit irgendeinem Gegenstand bewaffnen. Ich selbst kann mich mangels Waffe nur daran erinnern, einen gefüllten Wassereimer mitgeschleppt zu haben.
Mit einer ebenfalls mitgeschleppten alten Feuerspritze wollte ich wohl die „Feinde“ nass machen. Diese Wasserspritze war eine in fast jedem Haus vorhandene und wohl von den Nazis angeordnete Feuerspritze als Fußpumpe mit einem etwa 3m langen ummantelten Gummischlauch gegen Feuer, das durch Bombardements im Krieg entstehen konnte.
Um den rechten Zeitpunkt der Aktion auszumachen, war zuvor eine etwa 25 m hohe Birke in Schröders Garten bestiegen worden, von wo aus man einen gewissen Einblick auf einen Wiesenbereich am Rosengarten hatte. Die Birke war einige Zeit vor der laufenden Aktion mit großen Zimmermannsnägeln am unteren zweiglosen Stamm besteigbar gemacht worden. Die etwa 15 cm langen Vierkantnägel hatte ich in den unergründlich großen Lagerschuppen des alten Bauernhofes von Wünecke ausfindig gemacht und heimlich mitgebracht. Damit war ich bei den anderen Kumpeln wohl wieder mal gut angekommen und durfte mitmachen. Jedenfalls hatte jemand von der hohen Birke aus entdeckt, dass sich auf der feindlichen Wiese etwas tat, d.h. offensichtlich fand dort irgendein größerer Kindertreff statt. So wurden alle „Bandenmitglieder“ alarmiert und rund 14 Kinder und Jugendliche zogen in den Straßenkampf.
Kurz vor der Wiese wurde um eine Hausecke gespäht und dann mit Kampfgeschrei der Wiesentreff gestürmt. Einige der feindlichen Kinder konnten flüchten, die anderen blieben wie gelähmt stehen. Wie wir feststellen konnten, war man zu einer „Hochzeit“ versammelt.
Es gab einen Jungen als Braut verkleidet und einen Jungen als Bräutigam mit einer schwarzen Weste und einem schwarzen Zylinder. Als erste „Strafmaßnahme“ wurde der Zylinder dem Jungen vom Kopf geschlagen und geraubt. Wie bei einer Umtrunks-Zeremonie ging der Hut von Mann zu Mann. Allerdings wurde nichts getrunken, sondern jeder von uns musste in den Zylinder pinkeln. Dann wurde noch der eine oder andere verprügelt und die ganze Schar auseinander gejagt. Damit war unser Sieg perfekt.
Die Feindschaft dauerte aber wohl noch weiter an, denn eines Tages ging ich nichts Böses ahnend und kurzbehost vom Wohnhaus in der Lüneburger Strasse durch den Heckengang zum Garten der Familie Wünecke nahe dem Rosengarten, als mir ein größerer Junge mit einem Drahtkorb voll frisch geschnittener Brennnesseln als Gänsefutter entgegen kam. Er kam sofort auf mich zu, um mir mit den Nesseln die Beine zu verbrennen. Obwohl ich auf das Mauerfundament des Maschendrahtzauns an der Hecke hoch auswich (statt wegzulaufen), strich der Missetäter mir mit den Brennnesseln die nackten Beine rauf und runter, sodass ich ziemlich verbrannt nach Hause floh.
Auch der in Schröders Garten angelegte klassizistische Pavillon mit dem runden Kuppeldach lud zum Spielen ein. Der rund um das Erd-(Keller)-Geschoss angelegte Erdwall mit dem darüber liegenden Rundgang (Wehrgang) wurde von uns Kindern als Burganlage benutzt, die von unten her erobert werden musste. Ab und zu war auch die Kellertür nicht abgeschlossen, aber der feuchte Modergeruch und alte Kartoffellager-Plätze vertrieben uns von dort wieder. Wenn die alte Haushälterin und Garten-Bedienstete, Frau Meyer auf Grund des Krachs erschien und uns vertrieb, wurden die von einem Jungen gedichteten Spottverse angestimmt: „Tante Meyer legt drei Eier, in den Sand mit Verstand, kommt der Geier, frisst die Eier, arme Tante Meyer“.
Anmerkung aus der Allg.Zeitg. der Lüneburger Heide v. 18.5.13: Der Gartenpavillon im Apothekergarten hatte wohl zu seiner Zeit eine reine Aussichts- und Mußeftinktion. Der weiß verputzte Pavillon auf rundem Grundriss steht auf einem eigens für ihn aufgeschütteten grünbewachsenen Hügel. Der obere Zugang erfolgt über eine schmale geschwungene Steintreppe mit schmiedeeisernem Geländer auf eine kleine Aussichtsplattform mit Ziergitter. Die Ecken des Baus sind mit einfachen, dorischen Halbsäulen bis unter den Dachaufsatz verkleidet. Rundbogenfenster belichten den Innenraum. Unter der Plattform führt eine Tür mit Steingewände in den Hügel in ein Untergeschoss hinein. Der so zu erreichende Kellerraum war wohl als kühler und feuchter Lagerkeller gedacht. Ansonsten war das ganze Gebäude von hohen Eichenbäumen umstanden.
Zur Sommersonnenwende Ende Juni wurde im Garten der Apotheke Schröder ein Sonnwendfeuer
vorbereitet und nach Einbruch der zu dieser Sommerzeit recht späten Dämmerung angezündet. Beim Abbrennen wurden Lieder gesungen und wenn das Feuer ausreichend heruntergebrannt war, konnte man über die Feuerreste springen. Schließlich wurde ein Abschlußlied in der Dunkelheit gesungen, in dem der Text vorkam „…jetzt wird aber Schluss gemacht…“. Das versetzte mich immer ein wenig in eine wehmütige Stimmung, dass der Sommer nun vorbei sei und auch die schönen Zusammenkünfte.
Nägeln für einen Höhlenbau auszurüsten. Leider wurden wir irgendwo von einem Förster oder irgendeiner beamteten Person abgefangen, die uns das Werkzeug abnahm und uns wieder nach Hause schickte. Zum Spielen reizte uns auch eine große Sandkuhle direkt hinter dem Koppel der Tanten. Dort wurde Bausand abgegraben, sodass steile Sandberge stehen blieben, in die man Löcher und gefährliche Höhlen graben konnte. Aber allein schon der große „Sandkasten“ war es wert, dorthin zu radeln.
Übrigens war Radfahren in Bevensen und Umgebung oft etwas beschwerlich, weil viele Straßen mit den mehr oder weniger buckeligen Katzenköpfen gepflastert waren, so auch die Lüneburger Straße vor unserem Haus. Bei Straßen in die Umgebung gab es jedoch des Öfteren schmale Sandwege neben der Straße, die man gut zum Radfahren nutzen konnte. . Zum Schwimmen an die Ilmenau und das Strandbad ging es über den sog. Gummiweg, der seinen Namen von dem schwarzen moorigen und nachgiebigen Untergrund hatte. Über die alte Holzbrücke und am Klaubusch entlang hatte man schnell die Badeanstalt mit den dunkel geteerten Holzgebäuden und Umkleiden erreicht um sich im aufgeschütteten Sand zu aalen. Über eine Holzleiter oder das Sprungbett gelangte man in die schnell fließende Ilmenau, vor der uns die Tanten immer wegen der gefahrlichen Strömung und der Strudel warnten. Aber wir machten uns nichts daraus und schwammen oder gingen an das andere Ufer, um uns dort mit dem reichlich verfügbaren Moorschlamm zu schwärzen und als Neger herumzutollen.
Eines Tages hatte jemand vorgeschlagen, in einem alten Bäckerwagen auf dem Nebengrundstück einer Stellmacherei mit Pferdewagen-Reparatur ein Fest zu veranstalten (heute würde man Party sagen). Der geschlossene Bäckerwagen mit einer Deichsel für den Pferdeantrieb, mit den Seitengestellen für die Lagerung von Kuchen oder Torten und der abschließbaren Tür war
sowieso schon zu einem Treffpunkt der Jugendlichen geworden. Nun sollte irgendetwas „gekocht“
werden. Dazu sollte jeder der Jungs etwas mitbringen. Die ganz Schlauen boten also Geschirr, Töpfe oder Bestecke an, die man unauffällig entfuhren aber ebenso heimlich wieder zurückstellen konnte. Als Bewohner eines Hauses mit Lebensmitteln blieb die Beschaffung von Butter, Eier oder Zucker natürlich bei mir hängen. Auch Mehl oder Haferflocken waren willkommen. Mit den vorgenannten Zutaten hat die geheime Beschaffung wohl geklappt und so wurde die Beute schon mal im Bäckerwagen versteckt. Da in dem Kolonialwarenladen der Tanten keine Eier aufzufinden waren, entschlossen Freund Jens (Ruhsert) und ich uns, Eier aus dem Hühnerstall des Nachbarn Lohmann zu „besorgen“.
So kletterten wir über einen hohen Maschendrahtzaun und schlichen am helllichten Tage in den unverschlossenen Hühnerstall. Auf den beidseitigen 3-stöckigen Legeregalen mit den vielen Nestern saßen noch einige Hühner, die sich aber nicht stören ließen. So konnten wir den unbesetzten Nestern einige der frisch gelegten Eier entnehmen. Niemand hatte gottlob etwas gemerkt. Je 2 Eier in die Taschen der kurzen Hose gesteckt und vorsichtig den Stall verlassen war eins. Um über den Drahtzaun zu steigen, mussten die Buben aber ihre Beine in der Hüfte eingeknicken und oh Schreck, die Eier waren natürlich nur noch eine mit Schalen vermischte klebrige Masse. Daher mussten Eier als Zutat des Hordentopfes entfallen.
Als nun alle verfügbaren Zutaten im Topf gelandet waren, auch umgerührt war und das Gericht fast fertig, hatte einer der Buben einen gewaltigen Furz losgelassen. In dem engen Bäckerwagen war es plötzlich vor Gestank nicht auszuhalten. So flog die Tür auf und alles stürzte aus dem Wagen. Damit war die Party zu Ende. An einen Essensgenuss kann ich mich nicht mehr erinnern.
Irgendwann erreichte die Tanten die Nachricht, in ihrem Holzkoppel an der Chaussee nach Römstedt (wo heute eine Schule steht) seien fremde Leute dabei, Holz einzuschlagen. Letztendlich ist es den Tanten aber offensichtlich gelungen, das fertig auf Ofenlänge gesägte Fichtenholz wieder in ihren Besitz zu bringen. Und so kamen zwei pferdebespannte große vierräderige Bauernkarren durch das zweiflügelige Straßentor in den Hof gefahren und luden einen riesigen Stapel in Stücke geschnittene Baumstämme als Brennholz ab. Etwas später, es war wohl in den Ferien, hatte ich auf dem Hof dann Gelegenheit, das Brennholz mit einem Beil auf einem Baumstammklotz in handliche Scheite zu hacken. Als ich schon einen kleinen Teil gespalten hatte, wollte ich wohl etwas holen und ging über den Hof. Ich
stolperte über einen herumliegenden Ziegelstein, konnte mich nicht mehr aufrecht halten und fiel mit dem Gesicht auf den scharfkantigen Rand eines alten leeren Blecheimers, dessen Deckel entfernt war. Ein solcher Eimer hatte zuvor im Kolonialwaren- Laden der Tanten gestanden, um mit Marmelade gefüllt für den portionsweisen Verkauf bereitzustehen. Ich schlug mit dem Kinn auf den Rand auf, der mir die Kinnhaut durchtrennte. Weinend und mit den Fingern die Wunde abtastend, ging ich ins Wohnzimmer, wo einige der Tanten saßen. Als ich ihnen die blutverschmierten Finger an den Händen hinhielt und sie das blutverschmierte Gesicht sahen, fuhren sie mit Entsetzensschreien auf. Sie dachten wohl sofort, dass ich mir beim Holzhacken einen Finger abgehackt hätte. In Wirklichkeit war ich mit dem Finger durch die Wunde gestoßen, wo ich durch das Backenfleisch bis auf die Zähne durchfingern konnte. Schnell wurde ich dann zur Klinik Sinn gebracht, wo die Wunde genäht werden musste. Heute noch zeichnet mich der „Schmiss“ zwischen rechter Backe und Kinn aus. Zu Studentenzeiten in Aachen kam ich ab und zu in den Verdacht, Mitglied einer schlagenden Studentenverbindung zu sein.
Oft hielten mein Bruder und ich uns in den Scheunen, Schuppen und Lagerräumen des ehemaligen Bauernhofes zum Spielen auf. Aus einer Fensterluke in der ersten Etage des Lagers, wo wir uns eine Art Wohnhöhle aus Brettern mit einer Tür gebaut hatten, konnten wir in den Hof des Nachbarn schauen. Dort bellte des Öfteren ein lästiger Schäferhund, insbesondere dann, wenn man an dem besagten Fenster erschien. Um das Tier zu ärgern, holten wir die Feuerspritze, die jedes Haus im Krieg besitzen musste. Eine Art Fahrradpumpe mit einem ca. zwei Meter langen Schlauch, an dessen Spitze eine Metallspritze war, wurde in einen gefüllten Wassereimer gestellt und durch Handpumpen unter Druck gesetzt. So ergoss sich ein scharfer Wasserstrahl, der eigentlich zum Feuerlöschen in Kriegszeiten gedacht war, in das Maul des jetzt noch wütender bellenden Hundes. Aber richtig vertreiben konnte man den Hund eigentlich nicht, zumal ein Nachbar bald wegen des wüsten Gebells auf dem Hof erschien.
Übrigens wurde in dieser Höhle auch ab und zu geraucht. Eigentlich schmeckte eine Zigarette oder was das auch immer war, nicht besonders, aber man musste natürlich alles ausprobieren. Einmal hatte mein Bruder in einer alten Keks-Schachtel aus Blech ein Lagerfeuer direkt in der Holzbude im Lagergebäude entzündet. Dies geschah gegen meinen Willen, da mir das Feuer wegen der Brandgefahr zu gefährlich erschienen war und das ganze Lagerhaus hätte abbrennen können. Schnell hatte ich das Feuer aber wieder gelöscht. Im Lager standen auch zwei große alte Kleiderschränke mit ungezählten Blusen, Kleidern, Mänteln und abgesetzten Hüten. Diese Klamotten waren natürlich hochwillkommene Sachen für Verkleidungsspiele. So zogen wir, ausgerüstet mit einem möglichst unmöglichen Aufzug durch die Räume und stellten uns den Tanten vor. Sie haben dabei eigentlich nie geschimpft, wenn wir wieder alles weggehängt haben.
Die verschiedenen Bodenräume unter dem unverputzten Dach waren auch den Wetterunbilden ausgesetzt. Wenn es stark oder länger regnete, zeigten sich manch undichte Stellen zwischen den Pfannen, sodass es häufig an verschiedenen Undichtigkeiten durchregnete. Hier wurden dann alte Eimer und Pfannen untergestellt, die nach und nach vollliefen und entleert werden mussten. So waren die Tanten dann bei Regenwetter oft genötigt, auf den Boden zu klettern, das Wasser umzufüllen und die vielen Gefäße wieder zurechtzurücken.
Die Tanten waren keine großen Kirchgänger. Stattdessen waren sie recht abergläubig. Vor allem hatte man Angst vor einem Unglück. Das fing damit an, dass man bei aufgezogenem Gewitter aus Angst vor einem Blitzeinschlag im Haus bei tage und auch des nachts eine Blechkassette mit Sparbüchern und Versicherungspapieren (Bargeld war nie viel im Hause) zur Hand nahm und sich damit zur Flucht bereit ins Wohnzimmer setzte für den Fall, dass ein Blitz das Haus in Brand setzen würde. Im Übrigen berichtete Tante Alice steif und fest, sie habe bei einem Gewitter einen Kugelblitz im Haus beobachtet, der in einer Höhe von etwa 1 m langsam durch den Flur geschwebt sei und sich dann von selbst aufgelöst habe.
Die Angst vor Unglück wurde auch durch den Glaube an Weissagungen aus alter Bauernzeit deutlich, wenn ein Unglück drohte weil z.B. „eine schwarze Katze von links vor einem den Weg kreuzte“, wenn man sich „sonntags die Nägel schnitt“ oder bei Schafen am Wege: „Schäfchen zur Rechten, gibt’s was zu fechten; Schäfchen zur Linken, tut Freude uns winken“.
Auch durfte man keinen Knopf annähen, wenn das Hemd noch am Körper getragen wurde. Das war ja allerdings auch sinnvoll, weil man hätte gestochen werden können und eine infizierte Nadelspitze eine Entzündung hervorrufen könnte. Schließlich hatte man auch gegen Mäuse und Ratten zu kämpfen, indem entsprechende Fallen aufgestellt wurden. Eine ungewöhnliche Methode wurde aber einmal von Tante Alice angewandt.
Sie schrieb mit Kreide an das Scheunentor: „Medardus ist nicht zu Hause“. Medardus sei der Rattenkönig und so sollten die offensichtlich durch Fraßstellen aufgefallenen Ratten den Hof von selbst verlassen.
Ansonsten hat man sein Wissen aus dem großen Bücherbestand des Hauses, aus Kundengesprächen oder einem Abonnement der Allgemeinen Zeitung der Lüneburger Heide bezogen. Oft saßen die Geschwister Wünecke auch hinter den Gardinen ihren Wohnzimmerfenster, um den Betrieb auf der Lüneburger Straße zu beobachten. Das geschah z.B. gern sonntags, wenn die Kirche aus war (sieh mal, was die … wieder anhat oder schau mal den Hut… etc.) oder wenn manche, so bezeichnete, „Luftschnapper“ oder „Sommerfrischler“ vorbeikamen.
Zu einem späteren Zeitpunkt wurden Enten und Hühner im Hof gehalten, die so zahm waren, dass man sie auf den Arm nehmen und umhertragen konnte. Eines der Hühner sollte eines Tages geschlachtet werden. Dazu kam ein Fremder auf den Hof, der dem Huhn in meiner Anwesenheit den Kopf auf einem Hauklotz abschlug. Zu meinem allgemeinen und besonderem Entsetzen flog das Tier noch kopflos ein Stück durch die Scheune und fiel dann zu Boden. Einmal haben wir versucht, den fünf Enten einen kleinen Teich anzulegen. Leider versickerte das Wasser aber immer wieder, da der Untergrund nicht dicht zu kriegen war, denn es gab noch keine Teichfolien. Kurz nach dem Krieg gab es auch einen mehrstöckigen Kaninchenstall, deren Insassen wir mit Gras und Löwenzahn futtern durften.
Für irgendwelche Kleintransporte war nach dem Kriege ein solider Handwagen angeschafft worden, den der ortsansässige Stellmacher mitsamt den Naben, der Eisenbereifung der Speichenräder und der kräftigen Deichsel gezimmert hatte. Der Wagen war außen „schietbraun“ und innen hellblau gestrichen. Natürlich litten diese schönen Farben im Laufe der Zeit, aber die Achsen mit den Speichenrädern haben noch den Weg bis in unseren heutigen Bauernhof in der Eifel gefunden.
Für die nahegelegene Bahn interessierte ich mich sehr. Öfters ging ich an die Bahnüberführung und wartete, bis der Schrankenwärter im Stellwerk die Bahnschranken per Handbetrieb mit der Kurbel und einem aufregenden Läutesignal senkte und dann ein Güter- oder Personenzug durchkam. Auch die auf der Rückseite des Bahnhofs vorhandene Verladestation für Viehherden war interessant, wenn Schafe oder Rinder über eine Rampe in die Viehwagons getrieben wurden. Einmal hatte meine Tante Alice erreicht, dass ich die kleine dunkelrote Rangierlok „Köf“ besteigen und sogar ein Stück mitfahren durfte. Damals durfte man den normalen Einsteigebereich für die Personenzüge ja noch nur mit einer Bahnsteigkarte betreten, die 10 Pfennige kostete; heute kaum vorstellbar.
Nicht zu vergessen ist auch der schöne Garten der Tanten am Ende des Heckenweges am Rosengarten. Das Land war von der Kirche gepachtet und wurde als Gemüse- und Blumengarten genutzt. Im hinteren Teil befand sich ein großer Apfelbaum der Sorte Boskoop, daneben einige große Fliederbüsche. Es wurden Salat und Möhren angepflanzt, Blumensamen ausgebracht um Löwenmäulchen oder Jungfer im Grünen für häusliche Sträuße zu haben. In Erinnerung sind mir auch die hohen Rispen der Goldruten, die zu Sträußen ins Haus geholt wurden. Auch fanden sich zwei großgewachsene Stachelbeersträucher. Die grünen und roten Beeren schmeckten im Sommer, wenn sie endlich reif waren, besonders gut direkt vom Strauch. Ab und zu haben mein Bruder und ich im Herbst alles umgegraben, wobei ein Streit entstand, ob grobes Unkraut oder Quecken wurzeln ausgerissen oder untergegraben werden sollten.
Manchmal liefen wir auch nur durch den Ort, um irgendwo Fallobst aufzulesen und zu essen. Besonders beliebt war ein Birnbaum, der im Bäckergang hinter einer hohen Mauer stand und viele besonders süß schmeckende Griesbirnen auf den öffentlichen Weg fallen ließ. Der häusliche Ablauf war vermutlich in der üblichen Form von den Tanten organisiert, aber ich kann mich nicht an irgendwelche Mittag- und Abendessen oder das Frühstück erinnern. Wohl weiß ich noch, wie Tante Erna mit einer Schüssel voll flüssiger Sahne durch das Haus lief und mit dem Schneebesen die Sahne im Herumlaufen steif schlug. Auch wurde ab und zu ein köstlicher Butterkuchen auf einem großen Blech gebacken ebenso wie ein mit Heidelbeeren belegter Blechkuchen. Zuvor mussten wir allerdings helfen, die Heidelbeeren in mühsamer Bückarbeit zu suchen und in kleinen weißen Emaille-Tassen zu sammeln. Das verleidete uns die Erwartung auf den leckeren Kuchen etwas. Die Heidelbeeren, dort phonetisch auch Bickbeeren genannt (niederdeutsch nach pick = Pech wegen der dunklen Farbe), wurden auch zu köstlichem Saft verarbeitet, der in hohen Glasflaschen haltbar eingekocht wurde.
Femer gab es eine hohe Apfeltorte, darin Apfelspalten gemischt mit Teig und übergestreutem Zucker. Sie schmeckte am besten, wenn sie saftig und nicht richtig durchgebacken war. Berühmt waren auch Tante Ernas Apfelhörnchen aus Hefeteig, der zu einer Kugel geformt war und zum Aufgehen in eine Schüssel mit Wasser gelegt wurde, damit der Teig dann nach einiger Zeit aus dem Wasser aufstieg und somit backfertig war. Im Übrigen musste Tante Erna morgens einige der Kanonenöfen mit Papier und Holzstückchen anstochen, damit die verschiedenen Räume warm wurden und mit den nachgelegten Kohlestücken oder sogar Briketts geheizt werden konnte. Zum Trinken gab es oft selbstgemachte Säfte. Die aus Himbeeren oder Heidelbeeren erzeugten und eingedickten Frucht-Konzentrate wurden mit frischem Wasser aus der Hofpumpe aufgefüllt und direkt getrunken. Wenn ich bei Krankheit oder Fieber das Bett hüten musste, erbat ich mir immer einige Bände von Meyers Konversations-Lexikon mit den schönen Farblithographie-Blättern zu allen möglichen Themen. Auch Selbst-Aufklärung konnte man damit betreiben und die einschlägigen Skizzen betrachten. Ich habe mir gedacht, sowas machen meine Eltern nicht! Die 21 Bände des Lexikons von 1895 bis 1901 mit dem vergoldeten Rückenschild gibt es heute noch, sie sind in meinem Besitz in Aachen.
Wanderungen
In den folgenden Friedensjahren wurde mit den Bevenser Tanten viel gewandert; Durch den in den tiefen Buchenwald führenden Spechtsgang, nach Sängershöh, Feenteich und zum Nixengrund, zu den Franzosenbuchen und der Weinbergbrücke, auch zum Seerosenteich bei Bockas Lokal, weiter Heliandkreuz, Rockenmühle, Königsgräber bei Haßel, Sirachsberg (Teufelsstein), Lohn und immer wieder Klaubusch. Die Franzosenbuchen waren drei stattliche hochgewachsene Bäume, die im Dreieck dicht beieinander standen und mit Schnitzereien versehen waren. In Form von Initialen, z.T. mit einem Herz umrahmt und der Jahreszahl 1813 haben im Wald lagernde Französische Soldaten die Zeichen am Ende des Franzosenkrieges in die Rinde eingeritzt. Die Einschnitte sind im Verlauf der vielen Jahrzehnte immer weiter auseinander gewachsen, z. T. auf einige Zentimeter. Leider sind die majestätischen Bäume wegen ihres hohen Alters umgefallen.
Bei den Waldwanderungen suchten die Kinder passende trockene Zweige mit Astgabeln vom Waldboden auf, um an versteckten Stellen kleine Zwergenhäuser mit Moosdach zu bauen. Eine Tante konnte aus grünen Binsen einen kleinen Stuhl mit Aufhängevorrichtung anfertigen, der an einen Baumstamm gehängt wurde. Sie erzählte uns dann, das sei ein „Kuckucksstuhl“, der den Kuckuck anlocken würde. Eines Tages konnte ich beobachten, wie ein brauner Baummarder ein rotes Eichhörnchen verfolgte, das mit lauten Angstschreien und große Sprüngen durch das Geäst vor dem Verfolger flüchtete.
Im Frühling suchte man auf den Wiesen rechts der Ilmenau gegenüber der Mühle die schönen gelben Wildprimeln für einen kleinen Strauß. Gleichzeitig war natürlich das Ilmenau-Stauwehr an einer kleinen Nebenbrücke mit den einzelnen Staubrettern zur Regulierung des Wasserstandes für uns Kinder von großem Interesse. Auch die nahegelegene romantische Königsbrücke mit ihren zwei Bögen aus dem Teufelsstein erschien uns immer etwas geheimnisvoll und wegen des reißenden Wassers darunter auch gefahrlich. Zu einem späteren Zeitpunkt, als ich gerade bei meinem Vetter Kurt Petersen und seiner Frau Pierrette in Hamburg-Nienstedten war, kam ein Anruf aus Bevensen: „Der Pucki ist entlaufen“. Pucki war unser schöner schwarzer Langhaardackel, den man in einer Holzkiste, versehen mit Futter und Wassernapf, mit der Bahn von Düren nach Bevensen geschickt hatte. Im dortigen Bahnhof hatte er sich offenbar aus der Holzkiste genagt und war über die Gleise im Wald verschwunden. Wie sollte ich den da finden? Ich machte mich aber sofort von Hamburg nach Bevensen auf, um den Hund zu suchen. Laut rufend ging ich rund um den Bahnhof auf Suche, natürlich ohne Erfolg. Zwei oder drei Tage später morgens um halb 11 saß das gute Tier dann plötzlich auf der Treppe vor der Haustür der Tanten und machte durch Bellen und Winseln auf sich aufmerksam. Wie konnte das sein? Der Hund Pucki war nur einmal vor einem Jahr in den Ferien dort gewesen und hatte doch das Haus wiedergefunden. Eine tolle Leistung! Überhaupt war es ein intelligentes Tier. Man konnte mit ihm in den Schuppen und Scheunen trefflich auf Katzen- und Mäusejagd gehen. So hatten wir in den leeren Regalen einige schräge Bretter so verlegt, dass der Hund eigenständig über drei Regal-Etagen laufen konnte. Mit dem Alarmruf „Such die Katz“ schoss der Hund durch die Regale los und schnüffelte den Katzenund Mäusegerüchen nach.
Zur Schulzeit sind wir in den Ferien einmal mit Bruder Wolfgang Hepple, Jens Ruhsert und ich von Düren in 3 Tagen mit dem Fahrrad nach Bevensen gefahren. Volker hatte seit 1954 das neue blaue Super-Fahrrad Marke Rabeneick mit Leichtmetall Felgen. Es hatte schmale Rennreifen, Felgenbremsen, 3-Gangschaltung mit Schalthebel an der Querstage. Die erste Etappe bis zur Jugendherberge Herford war mit 225 km doch ziemlich lang und anstrengend, zumal einige Berge zu überwinden waren. Unterwegs versuchten wir immer wieder, uns an langsam fahrende LKW anzuhängen. Einmal gelang es auch, als Volker einen LKW mit Anhänger in einer Kurve erwischte und sich an den Anhänger am Hakenschloß der Heckklappe festhalten konnte. Leider war im Anhänger Fahrzeug unter einer flatternden Plane Zement geladen, der dadurch immer wieder von der Ladefläche herunter geweht wurde, sodass meine Haare mit und mit total grau verklebt waren. Am Zielort kamen wir nach 225 Kilometer Fahrstrecke an diesem einem Tag erst kurz vor Schluss um 22.00 Uhr in der Jugendherberge Herford an und konnten gerade noch duschen, wobei ich für die Haare besonders lange gebraucht habe. Noch zwei weitere Tage benötigten wir dann, um über Amelinghausen nach Bevensen zu kommen.
Zu besonderen Festtagen und Ereignissen hat man sich für den Verkauf im Laden immer rechtzeitig mit passenden Sachen eingedeckt. Zu Ostern waren dies natürlich bunte Ostereier aus Schokolade mit unterschiedlicher Cremefüllung (Sprengel oder Stollenwerk) und andere Sachen wie Osterhasen, etc. Zu Weihnachten gab es Weihnachtsmänner, diverses Spielzeug für die Kinder und Geschenke für Erwachsene. Immer waren die Tanten natürlich heilfroh, wenn sie diese Saisonware vollständig verkauft hatten. Lieferanten waren u.a. für Lebensmittel die Firmen Boguhn aus Suderburg, Süßwaren bei der Firma Wunram oder Verschiedenes bei der Firma Cohrs und anderen Speziallieferanten.
Mit den Jahren ging der Verkaufserfolg des „Tante-Emma-Ladens“ immer weiter zurück. Zuerst starb von den Inhaberinnen des Ladens Alice Blechschmidt, dann Grete Wünecke. Die im Haus allein zurückgebliebene Erna Wünecke konnte allein erst recht nichts mehr bewegen. So
wurde sie von ihrer Schwester Ilse Hepple, geb. Wünecke nach Düren geholt, wo sie noch viele Jahre in einem gesicherten Wohnumfeld in der Familie Hepple leben konnte. Sie starb am 30. September 1971 in Düren und ist auf dem dortigen Familiengrab von Hepple bestattet.
Das alte Fachwerkhaus in Bevensen lag viele Jahre verlassen in der Ortsmitte, bis Ilse Hepple ihren Sohn Volker Hepple beauftragte, einen Neubau zu errichten und zu vermieten. So wurde der Bevenser Architekt Alfred Berg beauftragt, die Pläne für ein Wohn- und Geschäftshaus zu erstellen. Der darauf basierende Neubau wurde Mitte des Jahres 1967 fertiggestellt, nachdem das alte Fachwerk-Gebäude zuvor 1966 abgerissen worden war (s. Fotos). All die alten Eichenbalken, fast alle alten Möbel, die Kachelöfen wie auch alle gußeisernen Kanonenöfen wurden mit beseitigt. Auch der schöne Kaufmannsladen mit den „Tausend“ Schubladen und den aufgeschraubten Emaille-Schildern wurde ein Raub des Baggers, weil zu jener Zeit niemand so etwas haben wollte. Nur die alte Kaufmannswaage aus Messing blieb erhalten, sie wurde von einem Lüneburger Antiquitätenhändler für 20 DM gekauft.
Eine Zahl von Einrichtungsgegenständen und Erinnerungsstücken blieb ebenfalls erhalten. So wurden das Wohnzimmer mit vier Polsterstühlen, zwei Sessel, ein Sofa und der Eßtisch mit einem Anhänger nach Düren geschafft. Dort sind sie -poliert und neu aufgepolstert- noch heute in Gebrauch. Ebenso ein großes Ölgemälde mit einem üppigen vergoldeten Rahmen, das Hochzeitsgeschenk für Elise Lühring, verheiratete Wünecke.
Der Neubau ist bis heute im Besitz des Erben Volker Hepple aus Aachen. (Foto 2012)
Meine Mutter Ilse Hepple, geb. Wünecke, wurde im Jahre 1899 im Hause Bevensen, Lüneburger Str. 20 geboren. Ihre Geschwister Alice, Erna und Grete Wünecke führten in diesem Haus bis ca. 1959 einen damals so bezeichneten und bekannten „Kolonialwarenladen“, heute würde man „Tante-Emma-Laden“ sagen. Dort haben die Geschwister Wünecke meine Eltern und mich insbesondere in den Kriegs- und Evakuierungszeiten und in den großen Ferien versorgt. Die Geschwister Wünecke, d.h. Alice und Grete Wünecke sowie deren Eltern sind auf der Grabstätte der Familie Wünecke auf dem alten Teil des Friedhofs in Bevensen direkt gegenüber der alten Kapelle bestattet worden. Die Eltern hießen Elise Wünecke geb. Lühring und Fritz Wünecke. Ihre Tochter Erna Wünecke und Schwester meiner Mutter ist unverheiratet geblieben und auf der Grabstelle von Max und Ilse Hepple in Düren beerdigt.
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