„Bananen und Apfelsinen, das ist nicht das Leben“
13. November 1989 – mr Uelzen. „Ich kann’s eigentlich noch gar nicht richtig fassen, daß ich jetzt drüben bin.“ Der junge Mann, dessen Miene eine Mischung aus Begeisterung und Unglaube widerspiegelt, lehnt lässig in der Mittagssonne an seinem braunen Wartburg.
Auf der Motorhaube stehen vier Mini-Flaschen Wodka, gekauft in Uelzen für 1,99 Mark das Stück. Er feiert Abschied von seinen Freunden aus Molzen, die er erst Sonnabend am Pizza-Stand kennengelernt und bei denen er auch gleich die Nacht verbracht hat. Ein nur vorübergehender Abschied, hofft er. Uelzen im Freudentaumel, eine „Trabantenstadt“. Noch nie waren die Straßen am Wochenende so schwarz vor Menschen, so dunstig blau vor Zweitakter-Abgasen. Noch nie gab es so viele strahlende Gesichter, noch nie waren bundesdeutsche Arme so weit geöffnet. Unbegreiflich ist für viele Besucher aus der DDR die Herzlichkeit, mit der sie aufgenommen werden. „Wir sind am Sonnabend von Salzwedel nach Uelzen gefahren“, erzählt eine junge Frau. Fünf Stunden Stau an der Grenze, da wollten sie und ihre Freunde nicht am gleichen Tag schon wieder zurückfahren. „Uns war ganz klar, daß wir im Auto schlafen.“ Doch bevor sie sich noch richtig ins Getümmel stürzen konnten, hatten sie schon einen weitaus
bequemeren Schlafplatz bei einer Familie in Uelzen. „Es ist so irre. Wir merken, daß ihr euch auch freut. Eigentlich hatten wir ja mit Distanz gerechnet.“ Frei nach dem Motto: O nein, jetzt kommen die alle mit ihren Trabis rüber, verpesten unsere Luft und kassieren obendrein noch Begrüßungsgeld, finanziert von unseren Steuern. Niemand hat diese Worte gehört. Und wohl kaum einer kam allein wegen der umstrittenen 100 Mark und dem Warenangebot. „Bananen und Apfelsinen – das ist nicht das Leben“, sagt eine Besucherin. „Wir hungern nicht, wir frieren nicht, wir haben Arbeit. Schlimm war nur das Gefühl, gefangen zu sein.“
Viele wollten einfach nur erfahren, wie das ist, frei reisen zu dürfen. „Das Gefühl war einfach unbeschreiblich, Stück für Stück an und schließlich über die Grenze zu fahren“, sagt ein Salzwedeler. Er braucht sicherlich noch 14 Tage, bis er richtig verarbeitet hat, was eigentlich passiert ist. Die Kollegen, ist er sicher, glauben ihm das alles am Montagmorgen jedenfalls nie und
nimmer. „Wir wollen erstmal das feeling für diese Stadt bekommen und uns nicht gleich in die Einkaufshektik stürzen“, sagt ein junger Mann lächelnd, der sich bei einem Glas Tee an der Lüneburger Straße aufwärmt.
Er ist noch „ganz erschlagen“ von den ersten Eindrücken. Na ja, ein wenig hektisch sei das schon alles hier. Und da hat er wohl recht. Vor und in einem großen Uelzener
Kaufhaus ist kaum mehr ein Durchkommen, draußen hört man oft: „Was, du bist auch hier?“ Und dann die Erklärung: „Das ist mein Nachbar aus Klötze.“ Einige hätten so viele Bekannte aus der DDR getroffen, daß sie schon fast meinten, wohl doch noch in Salzwedel zu sein. Die Schaufensterauslagen beweisen allerdings das Gegenteil. „Besonders unsere Kinder werden das nicht recht begreifen, wenn wir bald
wieder nach Hause kommen und die Fleischerläden sind leer“, meint ein Ehepaar nachdenklich. Sie haben, wie viele, im Westen erstmal an ihre Sprößlinge gedacht, Spielzeug und Süßigkeiten eingekauft. Für die Eltern fiel beim Shoppen eine Weihnachtsbaumspitze ab: „Die kriegen wir in der DDR einfach nicht.“ Ein Resümee des Wochenendes? „Ganz, ganz klasse“, lacht ein Mädchen im Vorübergehen. Aber halt nur auf Besuch. „Um hierzubleiben, ist das jetzt der ungünstigste Zeitpunkt“, erklärt ein Tagesausflügler. In einem Lokal hatte er sich kurz vorher mit ein paar Uelzenern unterhalten, Ost wie West kamen zu dem Schluß: „Es kommen so viele Ausländer und Übersiedler in die Bundesrepublik. Kann ein Staat das überhaupt verkraften?“ Er kann nur hoffen, daß „nicht eines Tages doch noch was schiefgeht.“
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