Quelle:

Text: Janina Fuge, Fotos aus: StadtA BB, A03, A606-32/1931/010

Über einen Bevenser Selbstmord des Jahres 1938

Ein Bleistift. Ein Taschenmesser mit einer Klinge und einem Korkenzieher. Eine Schachtel Streichhölzer, ein schwarzer Kamm, ein Portmonee mit einer Reichsmark Inhalt und eine Fahrkarte Isenhagen-Hankensbüttel-Wittingen. Mehr war es nicht, das der erst 19-jährige Georg S. in seinen Taschen trug, als ihn Bauer Besenthal am 7. Juli 1938 auf seiner Wiese an der Ilmenau, südlich des Bevenser Friedhofs fand. Der Junge war tot. Erhängt war er gefunden worden, die Schnur noch um den Hals.

Erste Aktennotiz über den Selbstmord

Und das, was von ihm blieb, ist eine Akte, die sich heute im Bevenser Stadtarchiv findet. Wir erfahren einige Daten über diesen jungen Menschen, blaue Augen und blonde Haare habe er gehabt, kräftige Schultern, eine Körpergröße von 1,65 Meter, bleiches Gesicht, hohe Stirn, vermutlich ein „landwirtschaftlicher Arbeiter“ wird da in den Dokumenten gemutmaßt. In den Akten finden sich sogar Fotos des heute als Teenager geltenden Jungen, der sich für den Freitod einen Baumwoll-Anzug und ein Hemd angezogen hatte und so friedlich und hübsch dort liegt, als schliefe er nur, das Leben noch vor sich.

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Georg S. wurde während der Ermittlungen auf den Bevenser Friedhof gebracht

Wenige Tage später

Ein paar Tage später finden Arbeiter beim Unkraut-Schneiden die in Zeitungspapier eingeschlagenen Dokumente des jungen Mannes, sein Name findet sich hierin, das Geburtsdatum – der 9. April 1919 – und sein Geburtsort Norok, im Kreis Falkenberg (Schlesien). Recherchen der Bevenser Ortspolizei und des Ortsbürgermeister im Kreis Falkenberg ergeben in der Folge, dass Georg sich 1935 zur „Landhilfe“, einer Art „Landarbeitsdienst“ für Jugendliche, die die Nationalsozialisten als arbeitsmarktpolitisches Instrument einsetzen, nach Bayern gemeldet hatte. Seine Eltern hätten ihn im August 1936 zuletzt und lediglich für zwei Tage gesehen, danach nicht mehr – allerdings sei Georg bei seinem Bruder in Darrigsdorf bei Gifhorn gewesen, der schließlich auch seine Identität festzustellen hatte.

Die Dokumente sagen indes nichts über die Gründe und Ursachen des Todes aus, sie erzählen nichts vom Leid, dass seine Familie erlitt. Und sie sagen auch nichts darüber, dass Georg für so viele dieser Zeit stand. Denn waren es zu Beginn der Weimarer Republik etwa 16 Suizide, die auf Hunderttausend Einwohner kamen, war diese Zahl bis 1933 auf fast das doppelte (29 pro Hunderttausend) angestiegen und hielt sich dort auch bis zum Kriegsbeginn 1939. Von den Nationalsozialisten wurde dieser Sachverhalt oft geleugnet, genauso oft jedoch stellte die pseudowissenschaftliche Rassenlehre den Suizid als erbliche Degenerationserscheinung dar, wie zuletzt Christian Goeschel in seiner lesenswerten Schrift „Selbstmord im Dritten Reich“ festhielt. Die Deutung des Suizids selbst blieb indes auch dann noch ambivalent, es wurde zwischen „schädlichen“ und „nützlichen“ Suiziden unterschieden: Schädlich dann, wenn der Verlust „wertvoller“ Menschen einen Verlust an nutzbarer Humanressource des Volkskörpers ausgemacht wurde – solche Suizide wurden später unter Strafandrohung gestellt, sie galten als „feige“ und verwerflich, weshalb schließlich auch oft der Mord an politischen Gegnern offiziell als „Selbstmord“ deklariert wurde. Viktor Klemperer nannte diese NS-eigene Sprachregelung „LTI“ ( Lingua Tertii Imperii, also Sprache des Dritten Reiches), die das Wort prägte: „selbstmorden“. Der Suizid „minderwertiger“ Menschen, oftmals eben Juden, wurde hingegen als ein Gewinn an „Volksgesundheit“ aktiv gefördert.

Auffindprotokoll

Ob Georgs Selbstmord in Bevensen einen wie auch immer gearteten politischem Hintergrund hatte, welche Spuren die polizeilichen Ermittlungen bei seiner Familie hinterließen – all dazu sind keine Quellen mehr überliefert. Und deswegen soll an dieser Stelle kurzerhand an den gerade 19-jährigen Georg S. erinnert werden, der am 7. Juli vor 78 Jahren in Bevensen einen zu frühen Tod starb.

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