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TEXT: Allgemeine Zeitung der Lüneburger Heide; Ostern 1995 – Zusammengestellt von Bernd Klingebiel

KÄTHE KRAMER, die Autorin dieser beeindruckenden Tagebuchaufzeichnungen aus den letzten Kriegstagen in Bevensen, war die Ehegattin des schleswig-holsteinischen Oberfinanzpräsidenten, Erich Kramer. Sie wurde in Bevensen als Tochter des bekannten Lehrers, Kantors und Stadtrates Otto Warnecke und dessen Frau geboren und wuchs in dem Heidestädtchen auf. Bei Kriegsende war die in- zwischen verstorbene Käthe Kramer 37 Jahre alt und lebte mit ihren beiden Kindern bei ihrem Vater im Haus an der Liebfrauenstraße 14. Die handschriftlichen Aufzeichnungen entstanden vor genau 50 Jahren. Sie wurden der Allgemeinen Zeitung von Diplom-Ingenieur Holger Svanström aus dem Nachlaß einer Verwandten zur Verfügung gestellt.

Von Panzer, Granaten und Bonbons

15. April 1945

Bei einem der letzten Fliegerangriffe auf Uelzen wurde unter anderem auch das Elektrizitätswerk beschädigt, so daß wir seit Tagen ohne Strom sind, kein Licht und vor allem kein Radio haben. Wir sind auf die spärlichen Nachrichten, die durchsickern, angewiesen.

Es heißt, die Front rückt näher. Und nach allem, was man sieht und hört, glauben wir es auch. Ich gehe schon seit Tagen nicht mehr zur Arbeit, die Tiefflieger sind stündlich hier und greifen alles, was sich auf der Erde bewegt, an. Feindliche Beobachter kreisen ständig über unser Städtchen, immer zwei und zwei zusammen, man wird ganz nervös davon. Erzählt wird, Bevensen sei zur Lazarettstadt erklärt; ob es wahr ist, und ob wir uns hier sicher fühlen können? Das Kinderheim ist allerdings Lazarett, das Heidekrankenhaus, Dr. Sinns Klinik usw. tragen weithin sichtbar den roten Kreis auf weißem Feld. Ob es uns genügend schützt? Uelzen will sich verteidigen, man hört schon in der Ferne die schwere Artillerie, und Gerüchte über Gerüchte sind im Umlauf. Jetzt soll Uelzen abgeriegelt sein, und da es weder Post, Radio, Zeitung noch Bahnverkehr gibt, haben wir keine Möglichkeit, etwas über das Schicksal der Uelzer zu erfahren.

Heute werden am Kinderheim Radioapparate (Heeresgut) verkauft, d. h. verteilt, der Andrang ist gewaltig, ich will es morgen noch mal versuchen. Es graut einem vor der Nacht, was kann alles passieren?

16. April 1945

Die Nacht ist überstanden, es war sehr unruhig, Bomber, Tiefflieger, Detonationen in der Ferne und Artilleriefeuer. Der Himmel war oft taghell von den Leuchtkugeln. Heute ist ein zauberhafter Frühlingstag, die Bäume stehen in vollster Blüte, und man könnte sich über alles so sehr freuen, wenn – ja, wenn kein Krieg wäre, noch dazu in allernächster Nähe. Man ist ständig in Sorge um die Kinder, sie müssen oft vom Spielen ins Haus gerufen werden. Heute früh war ich nochmal am Kinderheim wegen eines Radiogeräts, ich habe aber nur noch eine Nummer erwischt, morgen soll die Verteilung weitergehen, wenn nichts dazwischenkommt. Ich werde aber wohl freiwillig darauf verzichten, wir haben jetzt andere Sorgen. Das Bild auf der Landstraße ist auch zu bedrückend, ein völliges Chaos, Militär, Fahrzeuge, Zivilisten, darüber das Kreisen der Feindflieger, alles sieht nach drohender Gefahr aus. Der Rießel ist voller deutscher Soldaten, dazu Fahrzeuge aller Art. Auf der Lüneburger Landstraße stehen Posten, und die Fahrzeuge flitzen hin und her, über allem lastet ein heiliger Ernst, zum Scherzen ist niemand aufgelegt. In der Ferne das Grollen der Geschütze und M.G.-Feuer. Man spürt an allem die Nähe der Front. Schwere Bomberverbände zogen in Richtung Osten. Wer weiß, ob es nicht die letzten freien deutschen Soldaten waren, die wir heute gesehen haben? In der Stadt ist ein toller Betrieb, man kauft, was irgend zu kaufen ist. Überall endlose Schlangen. Gegen Mittag wurde von Haus zu Haus gerufen: Fenster und Türen öffnen, in Munitionszug wird in die Luft gesprengt. Es wurde aber nichts draus, sicherlich waren es nur Vorsichtsmaßnahmen wegen eines eventuellen Fliegerbeschusses. Am Abend stehen auf den Straßen Gruppen von Menschen. Jeder weiß etwas Neues, nur nichts Positives, es soll eine schwere Nacht werden, die englischen Panzer stehen kurz vor Bevensen. Wir haben unseren Keller zum Schlafen fertiggemacht, Koffer gepackt und warme Sachen nach unten geschafft. Mehr können wir nicht tun. Die Kinder finden alles riesig interessant, alles ist Sensation, den Ernst, der dahinter steht, verstehen sie Gott sei Dank noch nicht.

Die Reste eines Flakgeschützes an der Kreuzchaussee (heute Seedorfer Kreuz) im Medinger Rießel; am 17. April 1945 wurde dort mit drei Flackgeschützen gegen vorrückende britische Panzer des 3. Royal Tank-Regiments gekämpft – es waren Tote und Verwundete zu beklagen. Die Aufnahme stammt aus dem April 1946 (Privatarchiv Felsberg)

17. April 1945

Die Nacht hat nichts Besonderes gebracht, man soll doch nichts auf Gerüchte geben und nur glauben, was man mit eigenen Augen gesehen hat. Wegen eines Radioapparates habe ich mich nicht mehr angestellt, der Krieg rückt näher, man hat kein Interesse mehr dafür. Am Kinderheim wurden-die Verwundeten von der Hauptkampflinie eingeliefert, unverbunden, das Grollen der Artillerie rückt näher. Am Spätvormittag setzte ein tolles Schießen ein, immer in den Rießel hinein von der Chaussee, auf der englische Panzer stehen.

Deutsche Soldaten, die sich nach Lüneburg absetzen sollten, haben zu spät Nachricht bekommen und werden nun im Rießel beschossen. Wir halten uns im Keller auf, denn Artilleriegranaten zischen über unser Haus hinweg.

Um drei Uhr hört man auf Häuser und verlangen Quartier, den Straßen das Rollen der  Panzer, die Erde dröhnt davon,  dazu M.G.-Schießen. Die Engländer ziehen in unser Städtchen ein. Niemand verteidigt sich. Wir laufen auf die Straße und sehen auch über die Medinger Brücke Panzer fahren. Sollten das eventuell doch noch Deut- sche sein??? Aber im nächsten Moment rast ein Motorradfahrer die Straße herauf, der erste Engländer, der vorsichtig nach allen Seiten äugt. Wir stehen wie gebannt und wissen, jetzt sind wir in Feindes Hand. Der Bürgermeister fordert uns zur Ruhe auf, es soll uns nichts passieren. Um neun Uhr muß die Straße geräumt sein. Es ist aus mit der Freiheit, aber wir atmen trotzdem auf, die Stadt hat sich kampflos ergeben.

Einige Tote hat es leider doch gegeben durch die rübersausenden Granaten. Es sollen Warnschüsse gewesen sein. Am Horizont sieht man verschiedene Brände, einige Dörfer, die sich verteidigt haben, sind dem Erdboden gleich gemacht. Man kann nicht schlafen, die Erregung ist noch zu groß.

18. April 1945

Panzer rollen unentwegt, es rasselt durch die Straßen, man wagt sich kaum heraus. Am Abend, es fängt schon an zu dämmern, halten viele kleine Wagen mit Engländern auf unserer Straße, sie kommen in die Häuser und verlangen Quartier, immer drei zusammen, wie sie zu den einzelnen Wagen gehören. Wir bekommen drei nette Jungens, Fallschirmjäger, zwei Londoner und ein französisch sprechender Kanadier. Die Jungens haben Hunger, und bei Kerzenlicht wird in Tante Malis Küche ein Abendessen gekocht. Gemüse mit Kartoffeln, hinterher Obst aus Konserven. Dann wird starker Tee getrunken, Whisky und Zigaretten. Danach gehen wir schlafen, die Engländer unten, wir oben. Es sind Fallschirmjäger, die bei Münster und Wesel abgesetzt sind, sie sind auch kriegsmüde und wünschen sich das Ende des Krieges herbei, um nach Hause zu kommen.

19. April 1945

Unsere Fallschirmjäger sind abgefahren, sie haben Schokolade und Bonbons für „little children“ zurückgelassen. Übrigens gab es am Abend noch eine Schießerei auf die Fahrzeuge der Fallschirmjäger. Deutsche Flugzeuge beharkten sie mit MG. Wir sahen die Feuergarben aus den Rohren kommen. Wir rasten mit den Kindern in den Keller, aber die Englänger beruhigten uns und meinten, wir sollten in unseren Betten schlafen, es geschähe uns nichts. Und die Nacht blieb auch ruhig. Heute, unser neunjähriger Hochzeitstag, brachte unangenehme Überraschungen, wir mußten das Haus innerhalb einer Stunde räumen. Wir schleppten zu Gehlkens rüber, was irgend ging, als uns der Feldwebel sagte, „es ist doch nur für eine Nacht“.

Sie ließen uns deutlich fühlen, wir sind ihre Feinde, haben zu gehorchen. Jetzt spüren wir den Krieg und erleben das, was unsere Gegner schon Jahre durch unsere Besatzungstruppen durchgemacht haben. Die englische Infanterie rückte ein und nahm Beschlag von allen Häusern unseres Viertels. Gegen Abend sahen wir, daß in unser Haus Telefon gelegt wurde, außerdem wurden um das Haus 15 Schützenlöcher gegraben. Dazu lief wieder das Gerücht um, eine schwere Nacht stünde uns bevor, im Lohn stände eine deutsche S.S.-Division, die in der Nacht angreifen würde. Wir sind mitten im Kampfgebiet und müssen froh sein, wenn uns unser Haus erhalten bleibt.

20. April 1945

Unser Haus ist wieder leer, und wir haben den ganzen Tag aufgeräumt und Ordnung gemacht. Schade ist, daß so manche Kleinigkeiten fehlen; damit muß man sich abfinden, es ist. Das kleinste Übel. Wir haben uns wieder eingerichtet und warten auf neue Einquartierung.

21. April 1945

Heute früh war ich in der Stadt. Welch verändertes Bild?! Englische Soldaten und Fahrzeuge, dazu die Ansammlung der Polen. Ich habe selbst erlebt, als die Polen ein Geschäft stürmten, um zu plündern, englische Soldaten eingriffen und für Ordnung sorgten. In der Ferne hört man ein dumpfes Grummeln. Wie weit mag die Front sein? Wir wissen nichts. Heute mittag hat es im Klaubusch und Rießel wieder mit MG und Gewehren geschossen, es müssen doch noch deutsche Soldaten dort sein. Dazu ein endloser Regen, der sich einem aufs Gemüt legt. Von acht Uhr abends bis morgens um sieben Uhr haben wir Ausgehverbot.

22. April 1945

Heute ist Sonntag, es regnet immer noch. Auch in unserer Straße gibt es wieder neue Einquartierungen, ob wir wieder verschont bleiben? Wir stehen ängstlich und erwartungsvoll an den Fenstern. Eben waren Frau Kröger mit Tochter hier, zu Fuß aus Emmendorf. Alles wartet auf die endgültige Besatzung, damit so langsam wieder Ordnung bei uns einzieht. Von der Front hört man kaum noch etwas, die englischen Truppen sollen die Elbe erreicht haben. Es geht dann auf Berlin zu. Und was kommt dann?

23. April 1945

Ich bin schon früh am Morgen zum Brotkaufen gegangen, habe aber nichts bekommen, der flämische Bäcker von Kummers ist getürmt, und nun wartet man auf Ersatz. Ich gehe zu Gertrud Michaelis, um zu sehen, wie es ihr geht, ob sie auch Einquartierung bekommen hat.

Welch Treiben auf den Straßen? Fahrzeuge und Panzer auf allen Straßen, sie liegen in Ruhe und die Soldaten reparieren ihre Fahrzeuge. Man hat hier in Bevensen vom Krieg noch nicht viel abbekommen und kann sich mit den Tatsachen nicht abfinden. Ich selbst habe auch oft den Wunsch aufzuwachen, und alles ist ein böser Traum. Aber alles, alles ist wahr.

[…]

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