Hinweis:

Zeitzeuge: Jürgen Warnecke

Die Geschichte, die ich hier erzählen will, ist ein Stück Erinnerung an eine Zeit, die die Jüngeren unter uns nur vom Erzählen kennen könnten, den Älteren aber sicher noch hell im Gedächtnis sein wird. Das Weihnachten 1945 war für die meisten Menschen in unserem Land wohl eines der dunkelsten.

Der furchtbare Krieg war zwar vorüber, aber was hatte er zurückgelassen? Bitterste Armut, Zerstörung, auseinandergerissene Familien, Heimatlose, Besatzung durch die Siegermächte und eine vollkommen unsichere Zukunft. Das Weihnachtsfest 1945 erlebten wir Kinder dennoch als helles Lichterfest. Mutter hatte, ich weiß heute nicht mehr woher, einen fast mannshohen Tannenbaum bekommen. Darin hing unser schon mehrere Familiengenerationen vertrauter Weihnachtsbaumschmuck und aus Wachsresten vergangener Jahre hatte Großmutter ein paar Kerzen selber gegossen. Die ganze Weihnachtsstube roch nach Holz, nicht nur von dem grünen Tannenbaum, auch von dem rechts und links neben dem Ofen an der Wand aufgestapeltem Brennholz, das vor dem Verheizen hier erst einmal abtrocknen mußte. Auf der Spitze des für damalige Verhältnisse strahlenden Weihnachtsbaumes drehte sich, durch die Wärme der Kerzen angetrieben, wie schon seit vielen Jahren, die Klöppel des alten von uns so geliebten Weihnachtsbaumgeläutes und schlugen die kleinen Glöckchen zu fröhlichem Klingen an.

Um den Baum versammelte sich am Heiligen Abend fast die ganze Familie, die Großeltern, die in Hamburg ausgebombt waren, Mutters Schwägerin Tante Helene, die mit ihrem kleinen Söhnchen aus Polen geflüchtet war, Mutter, meine beiden Schwestern und ich. Vater und Onkel waren in französische Kriegsgefangenschaft geraten. Nach langer Ungewißheit hatte uns eine zensierte Karte von Vater ein paar Tage vor dem Fest aus der Nähe von Paris erreicht. Wir waren froh, daß er lebte.

Die Bescherung am Heiligen Abend war für heutige Zeiten mehr als bescheiden. Großvater hatte uns aus einigen noch vorhandenen „guten“ Brettern, die deshalb auch nicht verheizt worden waren, eine hübsche Kasperle-Bude gezimmert und Großmutter hatte die Vorhänge dazu genäht und zwei kleine, auswechselbare Kulissenwände bemalt, währen Mutter in stillen nächtlichen Stunden bei Petroleumlampenschein, denn der elektrische Strom wurde nachts abgeschaltet, drei Figuren für dieses kleine Theater aus vielerlei Textilresten gebastelt hatte. Für uns Kinder war dieser „Thepiskarren“ eine Seeligkeit, die erste Vorstellung gabs schon am Heiligen Abend. Gegen zehn Uhr abends aber endete das Fest für uns alle, denn pünktlich um zehn Uhr wurde wieder die Stromzufuhr abgeschaltet. Es fehlte damals an vielem, vor allem fehlten Grundstoffe zur Energiegewinnung.

Auch wir konnten in unsere, großen Haus nur das Wohnzimmer beheizen, für mehr reichte das Brennmaterial nicht aus, alle anderen Räume im Hause waren im Winter bitter kalt. Wir schliefen mit Mutter im elterlichen Schlafzimmer und damit die Betten abends nicht gar so kalt und klamm waren, legte Großmutter jeden Abend auf dem Ofen vorgewärmte Ziegelsteine in die Betten. So war es auch am Heiligen Abend 1945. Ich konnte vor Glück über die bescherte Kasperle-Theaterbude gar nicht einschlafen und lag noch lange wach, als ich plötzlich ein leises Läuten hörte – nein, es war kein Traum, es war wirklich ein leises, sphärenhaftes Läuten zu hören. Aber irgendwie kam mir dieses leise Läuten auch bekannt vor – ja, richtig, es war das Klingen unseres Tannenbaumgeläutes. Wer konnte denn da nur am Werke sein? War etwa das Christkind in unsere Stube gekommen? Ich malte mir schon die Begegnung mit dem Christkind aus und wollte gerade leise aus dem Schlafzimmer schleichen, denn ich glaubte Mutter und Schwestern in tiefem Schlaf, da raunte Mutter mir leise zu „ Was ist das?, Was läutet da?“

„Das muß das Christkind sein, Mutti!“, antwortete ich. Inzwischen waren auch meine beiden Schwestern wach geworden: wir horchten alle gebannt und beschlossen dann, doch mal nachzusehen. Im Flur zum Wohnzimmer begegnete uns Tante Helene, die auch das Läuten gehört hatte und nun mit einer brennenden Kerze in der Hand der Sache auf den Grund gehen wollte. Wir horchten erst noch eine Weile gemeinsam an der Tür zum Wohnzimmer und hörten dabei in kurzen Abständen das Klingen des Tannenbaumgeläutes, unsere Fantasie arbeite fieberhaft – von der anderen Seite des Flures hörten wir dabei Großvaters gleichmäßiges Schnarchen aus dem Nebenzimmer. Mutter öffnete dann ganz vorsichtig die Tür zur nun im Dunkeln liegenden weihnachtlichen Stube. Tante Helene folgte mit der brennenden Kerze und wir Kinder schlichen leise hinterdrein. Unser aller Blick zielte auf den im schwach-fahlen Licht der Kerze erscheinenden Tannenbaum, dessen Zweige sch in langgezogenen Schatten auf Zimmerdecke und Wände malten.

Und was gewahrten wir da? Oben, in der Spitze des Baumes, saß unser kleiner, uns vor drei Wochen zugelaufener Kater Felix, der unbemerkt in der warmen Stube geblieben war und nun possierlich und doch mit ehrfurchtsvoller Vorsicht mit den kleinen silbernen Glöckchen des Tannenbaumgeläutes spielte und zur Freude der ganzen Familie ein mitternächtliches Weihnachtsläuten veranstaltete.

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